119.
Das Warten ging Strecker auf den Keks. Wo blieb die Kavallerie denn bloß. Jetzt war schon annähernd eine halbe Stunde seit dem Telefonat mit der Sonderkommission vergangen, aber niemand war gekommen. Kein SEK, keine Spurensicherung und auch keiner der Kollegen aus Meckenheim.
Der Hauptkommissar saß in seinem Wagen, der immer noch in zweiter Reihe parkte und somit zum Ärgernis der anderen Verkehrsteilnehmer und zur Zielscheibe zahlreicher Anfeindungen wurde. Auch das war ein Grund für seine stetig wachsende Nervosität, das ständige Hupen der sich behindert fühlenden Fahrer war in den Häusern sicher leicht zu hören. Und jeder, der auch nur ein wenig zur Neugierde neigte, hatte sicher schon durch das Fenster gesehen, um die Ursache für den Lärm herauszufinden. Und wenn der Täter zu den Neugierigen gehört hatte, sollte er gewarnt sein.
Trotzdem, ein Alleingang war keine Alternative. Das war ihm zu gefährlich, sollte der Täter bewaffnet sein, würde es mindestens einen von ihnen erwischen. Aber er wollte ihn lebend. Strecker war neugierig, er hatte viele Fragen an ihn. Und weil er die Antworten hören wollte, mussten sie beide am Leben bleiben.
Keine fünf Minuten später hielt ein schwarzer Kleinbus hinter seinem Wagen. Das SEK war eingetroffen. Der Beifahrer stieg aus, ging nach vorne zu Strecker und setzte sich auf den Beifahrersitz.
„Es geht um das Haus rechts“, erklärte Strecker ihm. „Der Verdächtige wohnt in der obersten Etage rechts. Ich gehe davon aus, dass er nicht zu Hause ist, bin mir aber nicht sicher. Wir brauchen die Wohnung so unbeschädigt wie möglich, die Spurensicherung soll gleich nach euch rein. Klingeln könnt ihr links unten. Die dort wohnende Frau ist zu Hause. Soll ich mitkommen? Ich habe schon zweimal mit ihr gesprochen. Wenn ich im Flur auftauche, sollte sie weniger erschrecken als beim Anblick der hochgerüsteten Kampftruppe“.
„OK“, sagte der Truppführer des SEK. „Aber sobald wir drin sind, hältst du dich zurück, verstanden? Gehen wir“.
Als die beiden Beamten auf die Haustür zugingen, hatten sich die SEK-Beamten schon links und rechts neben dem Hauseingang postiert, wo sie sich an die Wand schmiegten, um sich vor Blicken aus den Frontfenstern zu verbergen.
Der Truppführer gab Strecker ein Zeichen mit dem Klingeln noch zu warten und sprach seine Anweisungen in das Mikrofon, das an seinem Helm befestigt war. Schließlich gab er Strecker das Zeichen. Er klingelte und nur Sekunden später surrte der Türöffner. Die Frau musste sie schon vom Fenster aus gesehen haben. Strecker trat ein, ging auf die wieder in der Wohnungstür stehende Frau zu, den Zeigefinger seiner rechten Hand senkrecht vor seine Lippen haltend. Die Frau nickte zum Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte und er bat sie durch Handzeichen zurückzutreten und die Wohnungstür zu schließen. Dann trat er zur Seite und ließ die SEK-Beamten vorbei.
Vorbei war auch der Spuk. Nach nicht einmal fünf Minuten. Nach einem lauten Knall und dem Splittern von Holz hatte er nur ein paar Rufe gehört. „Sauber“ oder ein ähnliches Wort hatten die Beamten des SEK wiederholt gerufen, dann war Stille eingekehrt, bis er einen Beamten die Treppe herunterkommen hörte. Es war der Truppführer der ihn darüber informierte, dass man in der Wohnung niemand angetroffen hatte. Wenig später hallte das Treppenhaus von Schritten, als die SEK-Beamten den Einsatzort verließen.
Kaum war der letzte SEK-Beamte durch die Haustür verschwunden, kamen andere Personen, in schneeweiße Overalls gekleidet in den Hausflur marschiert. Die Spurensicherung. Der Hauptkommissar wartete, bis der letzte Beamte an ihm vorbei war, dann folgte er ihm die Treppe herauf.
Strecker trat ein, sah vor sich einen kleinen Flur, von dem, zusätzlich zur Wohnungstür, vier weitere Türen abgingen.
Zwei auf der rechten Seite, eine links und eine an der Stirnwand, der Wohnungstür gegenüber. Die erste Tür an der rechten Seite führte in die Küche. Funktional eingerichtet, eine Arbeitsfläche mit unterbautem Kühlschrank und Spülmaschine an der linken Wand, der Herd vis a vis zur Tür. Rechts neben dem Fenster stand eine Art Besenschrank, vor der rechten Wand ein Tisch. Die der Küchentür im Flur gegenüberliegende Tür führte in das Bad. Toilette, Waschtisch samt Unterschrank, darüber ein Spiegel, rechts die Dusche, an der Wand zum Flur, ein paar Regale, das war es schon. Der Hauptkommissar ging weiter, warf einen Blick in das Zimmer hinten links, das Schlafzimmer. Ein Einzelbett, zwei Schränke und als einzigen Luxus einen großen Sessel in der Nähe des Fußendes des Bettes. Blieb das Wohnzimmer, mit einem Esstisch samt vier Stühlen direkt gegenüber der Tür, dem Fernseher links neben dem Fenster in der Seitenwand des Gebäudes. Die Wand links von der Tür war durch eine Balkontür durchbrochen, daneben stand eine Couch vor der ein ovaler Tisch platziert war. Erst als Strecker zwei Schritte in den Raum getreten war, entdeckte er den Schreibtisch und den davor stehenden Bürostuhl links neben der Tür.
Die Wohnung sah, zumindest auf den ersten Blick, völlig normal aus. Natürlich nur, wenn man die Gruppe von geschäftig in weißen Overalls herum huschenden Personen ausblendete. 2 Zimmer, Küche, Bad wäre wohl die typische Charakterisierung für eine Immobilienanzeige. Aber nichts Besonderes, nichts Auffälliges. Aber was hatte er auch erwartet, Ralf Heeger wohnte hier. Das war kein Tatort.
„Haben sie einen Computer, einen Laptop oder ein Handy gefunden?“, fragte Strecker einen der Spurensicherer.
„Bis jetzt nicht. Aber wir haben noch nicht alle Schränke durchsucht“, antwortete der Beamte.
„Wenn sie was finden, geben sie mir bitte Bescheid“, sagte der Hauptkommissar.
Mittlerweile waren auch die beiden weiteren der Mitglieder der Sonderkommission in der Wohnung eingetroffen.
„Und?“, fragte Hauptkommissar Faber.
„Der Vogel ist ausgeflogen. In der Wohnung ist auf den ersten Blick nichts Auffälliges. Wenn wir etwas finden wollen, werden wir es suchen müssen“, erklärte Strecker.
„Dann wollen wir mal“, forderte Faber seine Kollegen auf. „Wir suchen nach Beweisen, dass er was mit den Morden zu tun hat. Aber insbesondere suchen wir nach Hinweisen auf seinen aktuellen Aufenthaltsort“.
„Fangen sie schon mal an. Ich bin gleich wieder da“, sagte Strecker. Dann drehte er sich um und schickte sich an, die Wohnung zu verlassen.
„Wo wollen sie denn hin?“, rief ihm Hauptkommissarin Garber hinterher.
„Etwas nachholen, was ich vorhin leider versäumt habe. Und mir die Treppe einmal erspart hätte“, war die Antwort, deren letzte Worte schon aus einiger Entfernung zu kommen schienen. Strecker war die Treppe heruntergelaufen und klingelte an der Wohnung der jungen Mutter im Erdgeschoss.
Wie gewöhnlich dauerte es nicht lange bis sie öffnete.
„Was fährt Herr Heeger für ein Auto?“, fragte der Hauptkommissar die Frau.
„Er kam mit zwei verschiedenen Autos“, antwortete sie.
„Wissen sie was das für Autotypen waren?“
„Nein, damit kenne ich mich überhaupt nicht aus“, sagte sie. Strecker wollte sich schon abwenden, die Treppe wieder hochsteigen als die Frau weiter sprach.
„Aber eines davon war so eine Art VW-Bus“, ergänzte sie.
„Welche Farbe?“, wollte Strecker wissen.
„Ich glaube schwarz. Oder dunkelblau. Auf jeden Fall etwas in der Art“.
„Wissen sie zufällig auch noch das Kennzeichen?“
Hier musste die Frau passen. Das machte aber nichts. Um an die Information zu kommen, gab es andere Wege, insbesondere wenn man die Polizei war.
Noch während er die Treppe hochstieg, rief er Max Lohr an. „Hallo Lohr, wir müssen wissen, welche Fahrzeuge mit welchen Kennzeichen auf diesen Heeger angemeldet sind. Kriegen sie das doch bitte schleunigst raus und rufen sie mich dann an.“
„Er hat offenbar einen dunklen Bus“, sagte Strecker seinen beiden Kollegen, als er wieder oben in der Wohnung angekommen war. „Mein Kollege kümmert sich schon um die Informationen über das Fahrzeug. Die Spur wird immer heißer.“
„Hier haben wir noch nichts Brauchbares gefunden“, sagte Faber. „Keine Computer, kein Handy. Nichts. Alles was wir gefunden haben, sind einige Aktenordner auf dem Regal über dem Schreibtisch. Sie werden gleich nach Meckenheim gebracht. Dort werden die Kollegen sie durchsehen.“
Streckers Handy klingelte. Er nahm das Gespräch an. „Lohr“ sprach er bewusst laut. Er wollte, dass Hauptkommissar Faber mitbekam, das sein Kollege der Anrufer war.
„Sie haben die Fahrzeugdaten. Gut. Er hat einen schwarzen VW-Van. Das ist er. Schreiben Sie die Fahrzeuge zur Fahndung. Sofort“.
„Dann haben wir ihn wohl bald“, prognostizierte Hauptkommissar Faber.
„Abwarten“, relativierte Strecker.
„Frau Garber“, rief Hauptkommissar Faber. „Wir sollten abrücken. Zurück nach Meckenheim. Von dort werden wir die Fahndung koordinieren und die gefundenen Unterlagen auswerten.“